Wilhelm-Busch-Museum stellt Rotraut Susanne Berner aus

Es beginnt mit einem Wimmelzimmer. Dafür ist in Hannover der Vorraum zu den eigentlichen Ausstellungssälen des Deutschen Museums für Karikatur und Zeichenkunst rundum mit vergrößerten Szenen aus Rotraut Susanne Berners „Nacht-Wimmelbuch“ beklebt worden, dem 2010 erschienenen letzten der insgesamt fünf Bände, die vom Leben in der fiktiven Kleinstadt Wimmlingen erzählen: Die ersten vier widmen sich jeweils einer Jahreszeit und das letzte dem nächtlichen Geschehen eines lauen Abends mit Feuerwerk und allerhand kleinen Geschichten, die man sich auf den wortlosen, aber detailreichen Doppelseiten selbst erschließen kann. Dieser Buchzyklus hat sich zum größten Erfolg der Illustratorin (und hier auch Autorin) Rotraut Susanne Berner entwickelt, weltweit sind knapp drei Millionen Exemplare verkauft, und das in 22 Sprachen. Das in seinen städtischen Attributen typisch deutsche Wimmlingen wird auch in koreanischen oder russischen Kinderzimmern geschätzt, denn was seine Bewohner erleben, sind global gültige Alltagserfahrungen. Etwa die Konfrontation mit jungen Menschen, die auf Bürgersteigen in leicht vorgebeugter Haltung einhergehen, ohne Aufmerksamkeit für die Umgebung. Allerdings starren sie bei Rotraut Susanne Berner nicht aufs Smartphone, sondern noch in Bücher, und einer solchen Leserin namens Petra (alle wiederkehrenden Bewohner Wimmlingens tragen Namen, auch wenn man sie im Regelfall gar nicht erfährt) hat die Illustratorin ein eigenes Buch gewidmet, als Teil einer kleinen Serie von individuellen Geschichten jener Wimmlinger, die ihr besonders am Herzen liegen. Da findet man denn auch Armin, den Buchhändler, dessen Schaufenster stets mit Lieblingsbüchern dekoriert ist, denen man mindestens so deutlich wie der Porträtähnlichkeit ansieht, dass der 2012 verstorbene Ehemann von Rotraut Susanne Berner, Armin Abmeier, Vorbild für diese Figur gewesen ist. Oder Susanne, eine Krankenschwester, die nicht nur den Vornamen, sondern auch Gesichtszüge und Leidenschaften mit ihrer Schöpferin gemein hat. Die Wimmelbücher sind bei aller Öffentlichkeit, die sie gefunden haben, eine ganz private Liebeserklärung von Rotraut Susanne Berner ans Leben. Erst spät zum Kinderbuch Deshalb haben die Leserin Petra und der Buchhändler Armin darin ihren festen Platz, denn ein Leben ohne Bücher ist für die Illustratorin undenkbar. Sie sind nicht nur ihr Medium, sondern auch ihr Faszinosum, als Leserin wie als Autorin. Schon die Elfjährige schrieb in einem Lebenslauf, den sie 1959 für den Schulunterricht verfasste: „Meine Lieblingsfächer sind Zeichnen, Singen und Aufsatz. In der freien Zeit lese und dichte ich.“ Das Heft liegt in einer Vitrine mit Überbleibseln aus Rotraut Susanne Berners Kindheit; es sind natürlich meistens Bücher. Bis man an diese Vitrine gelangt, hat man aber schon das Wimmelzimmer durchquert, mit vielen Zeichnungen aus den Wimmelbüchern an den nächtlich tapezierten Wänden und mit Spielzeug auf dem Boden, so dass junge Besucher womöglich gar nicht so leicht aus dem heimeligen Raum heraus zu bewegen sein werden. Das wäre indes schade, denn die Hannoveraner Ausstellung ist extrem kinderfreundlich gestaltet, mit vielen niedrig gehängten Bildern – dem niedrigsten noch im Wimmelzimmer auf veritabler Kleinkindaugenhöhe ganz versteckt in einer Ecke –, was seinen Grund aber auch darin hat, dass man sonst die rund vierhundert Motive, die die Künstlerin selbst ausgewählt hat, gar nicht alle hätte unterbringen können. Aber hier entsteht nicht, was der Titel der Schau, „Sammel & Surium“, suggeriert; vielmehr sind die Bilder Themenbereichen zugeordnet, die jeweils solche Doppelwörter tragen: „Techtel & Mechtel“, „Welt & Räume“, „Papp & Satt“ oder „Buchstaben & Salat“. Die Chronologie der Publikationen ist aufgehoben, einige Berner-Bücher tragen zu mehreren Kapiteln etwas bei. So wird die inhaltliche Breite des Werks erst richtig deutlich. Und dessen Qualität, denn man braucht den Kontext der Bücher gar nicht, um die Bilder zu bewundern. Rotraut Susanne Berner kam spät zum Kinderbuch, Anfang der neunziger Jahre, als sie schon eine lange Karriere als Illustratorin von Buchumschlägen hinter sich hatte, vor allem bei dtv und dort als Nachfolgerin von keinem Geringeren als Celestino Piatti, der anfangs sämtliche Titelbilder des Taschenbuchverlags gestaltet hatte. Doch aus dieser Phase sind nur wenige, dafür aber umso eindrucksvollere Beispiele in Hannover zu sehen, der Schwerpunkt liegt klar auf den mittlerweile schier zahllosen Bilderbüchern. Wobei Berner auch eine grandiose Herausgeberin ist, die seit dem Tod ihres Mannes die von diesem begründete Reihe der „Tollen Hefte“ betreut, eines der schönsten publizistischen Schaufenster für Buchillustration weltweit. Und mit weltweitem Blick für Illustratoren, wobei es auch eine Freundesversammlung ist, die hier zusammenkommt, und natürlich ist Rotraut Susanne Berner selbst seit dem Auftaktjahr 1991 darin mehrfach vertreten gewesen. Ihre eigenen Tollen Hefte sind deshalb Teil der Hannoveraner Ausstellung, die Gesamtheit der bislang neunundvierzig Ausgaben wird dann vom 7. September an im Bilderbuchmuseum Troisdorf Gegenstand einer weiteren Ausstellung sein. Anlass beider Schauen ist der siebzigste Geburtstag von Rotraut Susanne Berner, und ein schöneres Geschenk als die Hannoveraner Retrospektive kann man sich als Zeichnerin nicht wünschen. Weil hier sichtbar wird, wie viele Techniken Berner beherrscht. Ja, sie hat einen typischen Stil, bekannt durch die Wimmelbücher oder die kaum weniger erfolgreiche Serie der „Karlchen“-Pappbände für Kinder im Vorlesealter und vertraut durch die Farben und Formen, die sie ihrem großen Vorbild Walter Trier abgeschaut hat, aber wer etwa die Collagen in der Ausstellung sieht oder ihre druckgraphischen Arbeiten, der wird eine neue Künstlerin entdecken. Und manchmal auch eine altvertraute, die er aber noch gar nicht in ihrem Können erfassen konnte, weil ein Blatt wie die Pastellzeichnung zum Thema „Sterben“ aus dem Bilderbuch „Mutter, Vater, ich und sie“ zu Texten von Jörg Schubiger, mit dem Berner eine besonders intensive Zusammenarbeit verband, in ihrer Subtilität kaum drucktechnisch reproduzierbar ist. Und dann sind da plötzlich Leitmotive wie prächtige Blumenfelder, die sich immer wiederfinden: in den Wimmelbüchern, den Gedichtillustrationen und am schönsten in einem Männerporträt von 2002, dessen Bart als Blumenwiese gezeichnet ist. Das ist keine Stilllebenmalerei, sondern Lebensstilmalerei, die an allem Bunten, Blühenden, Belebenden sichtbar reine Freude hat. Und wir mit ihr.